Kurzgeschichte „Augen müde, Gesicht leer“

Die Nacht ist warm. Der Sommer wird bald vorbei sein. Die Stadt riecht vertraut, als sie durch die Nacht fährt. Sie atmet tief ein: Asphalt, Autos, Alkohol, Menschen, Urin. Die Brauerei gibt ihre Prise zur Würze hinzu. Sie lenkt um ein Vermögen, das in Scherben in den Ritzen zwischen den abgewetzten Kopfsteinpflastersteinen liegt. Die dünnen Reifen hüpfen über die Straße, sicher hält sie die Lenker des klapprigen Rennrads. Sie könnte los lassen, das Vorderrad würde verreißen, rutschen, sie würde über die Straße schlittern, aufschlagen und liegen bleiben. Sie blinzelt.

Freiheit, hatte er gesagt, Freiheit bräuchte er. Er sei jung, wolle sich nicht festlegen, das Leben hätte noch mehr zu bieten. Das spüre er. Sie könne ihn nicht aufhalten. Schweigend hatte sie genickt und daran gedacht, dass sie wieder vergessen hatte, den Blazer aus der Reinigung zu holen.

Sie hat kein Licht am Rad, die Stadt ist hell genug. Sterne hat sie schon lange keine mehr gesehen, der Himmel ist rötlich braun erleuchtet. Sie legt den Kopf in den Nacken, lässt sich rollen. Zu viele Ampeln, die Stadt hat zu viele Ampeln. Sie hält an einer Kreuzung. Eine Ampel vor, eine links von ihr. Beide rot. Sie überlässt die Entscheidung dem Takt der Lichter. Sie wartet. Grün – sie biegt links ab.

Sie schließt das Rad an, schlängelt sich durch die Massen, die von der U-Bahn über die Straße strömen. Ein unsteter Fluss an Menschen. Betrunkene Frauen mit hohen Schuhen und tiefen Ausschnitten, untergehakt, bei ihren Männern, bei ihren Freundinnen, lachen laut, kreischend. Autos hupen. Musik dröhnt aus den Clubs. Sie ist alleine. Lässt sich treiben, mit dem Strom.

Der Türsteher schaut sie gar nicht wirklich an.

Sie trinkt ein Bier. Froh, noch nicht zuhause zu sein, wo nur die dreibeinige Katze, dreckige Wäsche auf dem Boden und das Geschirr in der Spüle auf sie warten. Sie beobachtet die zuckenden Körper auf der Tanzfläche, der Bass dröhnt in ihren Ohren, schlägt in ihrem Magen. Sie tanzt, hört auf zu denken, versucht zu fühlen. Sie taucht in der Masse unter, ist eine von ihnen. Den anderen.

Freiheit, hatte sie gesagt. Freiheit suche sie. Sie sei jung, wolle sich nicht festlegen, das Leben hätte noch mehr zu bieten. Das spüre sie. Betreten hatten die Eltern genickt. Man würde sie ziehen lassen, was sie umtreibt, müsse sie suchen, müsse es finden. Man könne sie nicht aufhalten.

Sie sucht schon lange nicht mehr. Sie tanzt. Tanzt in ihrem eigenen Rhythmus, der nicht zur Musik, aber zu ihr passt. Der sie antreibt, an ihr zerrt. Sie schließt die Augen, blendet die anderen aus. Sie ist alleine.

Jemand legt die Hand auf ihre Hüfte. Sie spürt die Person hinter sich, blickt auf, dreht den Kopf, um zu sehen, wer es ist. Er ist nah. Er ist betrunken, sagt etwas zu ihr, das sie nicht versteht. Es ist zu laut. Sie zuckt mit den Schultern. Es spielt keine Rolle. Er riecht nach Bier, Schweiß und Duschgel. Sie bewegt weich die Hüften. Spürt, wie er darauf reagiert. Seine Hand zieht sie näher an sich. Sie lässt ihn.

Der DJ wechselt die Musik. Das Publikum grölt und singt die ersten Worte des Liedes mit. Sie hält abrupt inne, deutet mit dem Kopf zur Bar und geht. Er kommt nach. Er bestellt Schnaps. Sie mag eigentlich lieber Bier. Der Schnaps brennt im Hals, läuft heiß in den Magen. Er fragt, wie sie heißt. Sein Mund ist nah an ihrem Ohr, sie spürt den warmen Atem und seine feuchten Lippen, als er schwankend an sie stößt. Sie zuckt mit den Schultern. Spielt keine Rolle, sagt sie. Er lacht und zwinkert ihr zu. Als er sie küsst, lässt sie es geschehen. Er schmeckt nach Bier, nach Essen und fremd. Sie beißt ihn in die Lippe und lässt ihn stehen. Sie muss mal.

Jemand würgt in der hinteren Toilette. Die Schuhspitzen schauen unter der Klotür durch. Sie sind dreckig und abgewetzt. Beim Würgen zucken sie leicht zusammen. Zu viel Bier, zu viel Schnaps, zu viel Vergnügen, denkt sie und trocknet sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Sie öffnet die Tür und geht zurück. Musik schlägt ihr entgegen. Er ist nicht mehr da, ist in der Masse untergetaucht. Mit einem Mal braucht sie frische Luft. Sie kämpft sich nach draußen.

Sie atmet tief ein. Sie läuft los. Läuft durch die Straßen. Vorbei an Obdachlosen, die sich nicht die Mühe machen, sie um Geld zu bitten. Vorbei an Gruppen, die lachend zusammenstehen. Sie wird nicht gesehen. Die Nacht, die eigentlich nur hellschwarz ist, hüllt sie ein. Verschluckt sie. Sie hält den Blick gesenkt. Sie will nicht sehen.

Ihr Vorderreifen ist platt. Sie schiebt. Biegt ab. In den Seitenstraßen ist kaum jemand unterwegs. Spontan geht sie in Richtung Hafen. Glitzernd wälzt sich das schwarze Wasser durch die Stadt, Lichter spiegeln sich in tausend kleinen Reflektionen in der Nacht. Es ist noch warm, aber am Wasser wird es kühler. Sie fröstelt ein bisschen. Ein Auto fährt hupend an ihr vorbei. Sie blickt den Rücklichtern hinterher. Dann ist es wieder leiser. Bis sie unten am Ufer angekommen ist.

Sie setzt sich auf die Mauer und schaut rüber auf die andere Seite. Emsig werden Container verladen, kein Stillstand. Niemals Stillstand. Ihre Beine baumeln über dem dunklen Wasser. So sitzt sie eine Weile. Bis es ihr zu kalt wird und sie weiterzieht.

Sie weiß, sie sollte nach Hause gehen, die Katze streicheln, die Wäsche aufheben und das Geschirr abspülen. Jemand spricht sie an, geht ein paar Schritte auf sie zu, sie wechselt die Straßenseite. Er kommt nach. Sie wird schneller. Dreht sich nicht um. Das Fahrrad ist sperrig und stört sie beim Gehen. Sie hastet jetzt, das Rad gleitet ihr fast aus den Händen. Sie stolpert und verliert den linken Schuh. Sie lässt ihn liegen, eilt weiter. Er könnte sie greifen, würgen, nach ihr schlagen, sie treten. Sie blinzelt.

Sie biegt ins Hafenviertel ab, hier sind Menschen. Sie ist wieder allein, er ist ihr nicht gefolgt. Ihr Atem beruhigt sich. Sie wird langsamer. Sie zieht den anderen Schuh aus und steckt ihn in ihren Rucksack. Barfuß geht sie weiter. Spürt den Asphalt unter den Füßen, kleine Steine bohren sich in ihre Fußsohle. Vorsicht vor den Scherben, denkt sie.

Die Nacht ist warm. Der Sommer ist bald vorbei. Aber noch sitzen die anderen draußen, in gemischten Gruppen. Männer und Frauen, Freundinnen, Kumpels. Stimmen fließen durch die Nacht. Sie wird nicht gesehen. Es macht ihr nichts aus. Sie streift umher, angetrieben vom Puls der Stadt. Manchmal ganz schwach, dann laut dröhnend. Aber immer vorwärts. Am Späti kauft sie noch ein Bier für den Weg.

Zuhause wartet die dreibeinige Katze nicht auf sie. Vermutlich liegt sie im Hinterhof auf der Lauer. Die Mitbewohnerin ist mit dem Rucksack unterwegs in Südamerika. Die Wohnung ist leer ohne sie, leer und leise. Im Kühlschrank ist noch Essen vom Inder. Sie riecht daran. Sie öffnet das Fenster, lässt die warme Luft und die Geräusche der Stadt in die Wohnung. Sie setzt sich auf die Fensterbank, sieht auf die Straße herunter. Sie stochert in der Pappbox. Es schmeckt schal.

Sie geht ins Bad, wäscht sich die Stadt ab. Das Wasser rinnt von ihren Wangen, tropft auf ihr Hemd. Sie begegnet ihrem Blick im Spiegel. Augen müde, Gesicht leer.