Mimi kannte nur einen Menschen, der um diese Uhrzeit bei ihr klingelte. Klopfte und durch die geschlossene Tür leise und doch laut genug Beschwörungen rief, damit sie ihn hörte. Jakob. Jakob war wieder da.
Mimi zögerte neben der Tür, wie sie es immer tat, wenn Jakob unangekündigt bei ihr auftauchte und Obdach suchte. Wenn er zu betrunken war, um nach Hause zu fahren, die letzte Bahn längst ohne ihn gefahren war oder er einfach nicht allein sein wollte. Was alle paar Monate der Fall war. Sie scherzte, dass er sich nur dann an sie erinnerte, aber in ihrem Scherz lag die enttäuschende Gewissheit, dass es so war.
„Mimi, ich hab gesehen, dass dein Licht brennt, ich weiß, du bist da. Lass mich bitte rein. Es ist kalt hier draußen, Mimi.“ Sein Flehen drang unter der Tür durch, waberte durch ihren kleinen Flur. Wie Nebel hüllte es sie ein, strich um ihre Beine, an ihrem Körper hoch, machte das Atmen schwer. Sie hielt die Luft an, um sein giftiges Schmeicheln nicht in sich aufzunehmen. Was würde passieren, wenn sie dieses eine Mal die Tür nicht für ihn öffnete. Wenn er dieses eine Mal nicht bei ihr schlief. Ihr ein Mal nicht das Herz noch ein kleines bisschen mehr brach.
Sie tastete mit der Hand nach dem Türgriff. Als im Hausflur das Licht erlosch, hoffte sie für einen Moment, die plötzliche Dunkelheit würde ihn verschlucken. Vorsichtig öffnete sie die Tür, um nachzusehen, ob er weg war. Er stand direkt vor ihr und sah sie aus müden Augen an. Mit einer Hand hielt er sich an ihrem Türrahmen fest. Ein Lächeln nahm sein Gesicht ein. Dieses Lächeln, dem sie nicht widerstehen konnte.
„Mimi“, rief er aus, erfreut, als wären sie sich zufällig auf der Straße begegnet und nicht als wäre er zu ihr gekommen, mit dem festen Vorsatz, sich in ihre Nacht, ihr Bett und ihr Herz zu schleichen. Sie ließ ihn rein, um die Nachbarn nicht zu wecken. Und weil sie ihn immer rein ließ. In ihre Nacht, ihr Bett und in ihr Herz.
„Weißt du, man kann dein Nachtlicht durch das Fenster leuchten sehen. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der nachts ein Licht brennen lässt. Da schläft man doch.“
Mit der Selbstverständlichkeit der Erfahrung zog er sich die Schuhe aus und ließ seine Jacke auf den Boden daneben fallen. Mimi sah ihm zu. Malte sich aus, wie sie ihn hinauswarf, am Kragen packte, aus ihrer Nacht, ihrem Bett und ihrem Herzen zerrte und seine Schuhe hinter ihm her warf. ‚Verschwinde’, würde sie rufen, ‚verschwinde und komm nie mehr wieder.’
„Das stimmt nicht. Viele Menschen haben nachts ein Licht an“, verteidigte sie sich stattdessen halbherzig.
„Nur kleine Kinder und Menschen, die Angst im Dunkeln haben.“ Jakob beugte sich vor bis seine Nase fast ihre berührte. „Hast du Angst im Dunkeln?“, fragte er mit von der späten Stunde kratziger Stimme. Nur vor dir und dem, was du meinem Herzen antust, dachte sie und schüttelte den Kopf.
„Wir sollten schlafen. Es ist schon spät“, befand er und sie nickte kraftlos. Nur bei ihm war sie schwach, traute sich selbst nicht. Weswegen sie niemals irgendwem von ihm erzählte. Wenn sie das täte, würde man sie in einem anderen Licht sehen. Und Mimi wollte nicht, dass jemand sie anders sah, weil sie sich dann vielleicht selbst so sehen würde.
Mit einem erschöpften Seufzer ließ Jakob sich auf ihr Bett fallen. Jakob fragte nicht und sie hatte es ihm in den letzten Jahren auch nicht ein Mal verwehrt. Er rollte herum, zog sich die Jeans von den Beinen und den Pullover aus. Mimi kroch auf ihre Seite des Bettes. Mimi drehte ihm den Rücken zu. „Ich muss früh raus, also ‚Gute Nacht’“, raunte sie ihm zu, herrischer als sie es mit anderen tun würde. Sie kniff die Augen zu, als könnte sie sich damit in den Schlaf zwingen. Wie immer lag er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt – ohne sie je zu berühren. Wenn er dies täte, würde sie implodieren, in Tausend kleine Einzelteile zerspringen, von denen sie nicht sicher war, ob sie diese wieder in der richtigen Zuordnung zusammensetzen könnte. Und dennoch – sie sehnte sich nach einer zärtlichen Geste. Einer kleinen, winzigen Geste der Zuneigung. Sie würde ihm nichts verwehren.
Mimi wartete darauf, dass sein Atem langsamer wurde, wartete auf ein Zeichen, dass er endlich eingeschlafen war. Damit sie auch schlafen konnte. Sie kannte seine Schlafgeräusche, und die Wärme, die sein Körper abstrahlte wie eine Heizung.
„Warum bist du hier?“, flüsterte sie plötzlich so leise, dass er es kaum hören konnte.
„Ich bin gern bei dir“, gestand er.
„Warum?“, fragte sie wie ein kleines Kind und kämpfte gegen die Verzweiflung an.
„Du bist du“, raunte er und begnügte sich damit, als würde das irgendeine ihrer Fragen beantworten. Mimi hoffte, dass er nicht hören konnte, wie etwas klirrend in ihr zerbrach.
Er würde es nie sehen. Wie sehr sie ihn liebte, obwohl er ihre Gefühle nicht erwiderte. Wie machtlos und weich sie war, wenn er an ihre Tür klopfte. Wie sie ihn bereitwillig in ihr Heim ließ, obwohl sie es nicht wollte. Wie sehr sie sich dafür verachtete. Er sah nur, was alle sahen, was sie alle sehen ließ. Aber sie war einsam. Und besonders einsam, wenn er neben ihr lag. Er tauchte alle paar Monate auf, wenn er ein Bett oder etwas Gesellschaft brauchte. Was sie brauchte fragte er nie.
Aus Angst vor ihrer Antwort. Sie brauchte niemanden, schon gar nicht ihn. Mimi war stark, der stärkste Mensch, der ihm je begegnet war.
Nachts ließ sie ein kleines Licht brennen, das war ihre einzige Schwäche, die er kannte. Mimi hatte Angst im Dunkeln. Jakob würde sie so gern beschützen, ihr sagen, dass sie vor nichts Angst haben müsste, weil er bei ihr sei. Es gab nichts, was sie nicht von ihm haben könnte.
Mimi schwieg und Jakob fragte sich, ob er zu viel gesagt hatte, zu viel gewagt. Ihr Schweigen war wie eine Wand, gegen die er frontal knallte. Er hielt die Luft an, um nicht zu viel von ihrer Ablehnung einzusaugen, die eine abweisende Kälte zwischen ihnen aufziehen ließ. Jakob wusste, er sollte nicht hier sein. Hier in ihrem Zuhause. Obwohl sie ihn nicht wollte. Nur ein Mal würde er gern über ihren warmen Rücken streicheln, nur ein Mal sollte sie sich zu ihm umdrehen und ihn ansehen. Dann wüsste sie Bescheid. Aber sie tat es nie. Und jedes Mal brach sie sein Herz ein bisschen mehr. Jakob kehrte ihrem Rücken den seinen zu und schloss die Augen. Wartete darauf, dass sie einschlief und ihr Körper sich neben seinem entspannte. Erst dann könnte er auch Schlaf finden.
Mimi würde es nie sehen. Wie sehr er sie liebte, obwohl sie seine Gefühle nicht erwiderte.
Alle paar Monate hielt er die Sehnsucht nach ihr nicht mehr aus und kam vorbei. Bei ihr war er schwach. Er gestand es sich ein, bei ihr war er nicht der Mann, der er sein müsste für sie. Stark und unabhängig, wie sie es war. Sie ließ ihn in ihre Nacht, ihr Bett, aber niemals in ihr Herz.
Alle paar Monate lag er neben ihr, hoffte, dass sie ihm ein Zeichen gab. Dass sie nur ein Mal eine Bewegung in seine Richtung machte. Aber sie drehte ihm stets den Rücken zu, duldete ihn lediglich neben sich. Und wenn Jakob am nächsten Morgen aufwachte, saß sie schon längst in der Küche und trank Kaffee. Sie wartete nur darauf, dass er endlich ging. Wenn er aufwachte, war nur noch der Abdruck von ihren Körpern auf dem Laken zu sehen. Wie der Liegeabdruck von Wolken, die längst weitergezogen waren.